Hildegard Goss-Mayrs Engagement für Gewaltfreiheit

Hildegard Goss-Mayr

Hildegard Goss-Mayr und ihr lebenslanges Engagement für gewaltfreie Bewegungen. Aktive Gewaltfreiheit in der Überwindung von Unrecht und Diktatur in Lateinamerika

Beitrag für das Symposim „Etwas tun! Aber wie? Symposium zur aktiven Gewaltfreiheit aus Anlass von Gandhis 150. Geburtstag Ein Beitrag zur Entpolarisierung“ von 27. bis 29. September 2019 in Linz

von Lucia Hämmerle und Pete Hämmerle (Internationaler Versöhnungsbund)

Hildegard Goss-Mayr

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1. Kurze Biographie von Hildegard Goss-Mayr

Hildegard wurde am 22.1.1930 in Wien geboren als Tochter von Kaspar Mayr, damals Internationaler Sekretär des International Fellowship of Reconciliation (IFOR) in Wien, zuständig v.a. für die Versöhnungsarbeit zwischen Menschen aus Deutschland und Polen sowie die Osteuropa-Arbeit des IVB. Durch ihre Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus und danach gelangte Hildegard Mayr während ihres Studiums (Sprachen, Philosophie und Geschichte) immer stärker zu der Erkenntnis, dass sie durch und in ihrem Leben einen Beitrag leisten wolle, die Kraft der Liebe und der Gewaltfreiheit, wie sie ihr in den Evangelien und ihren Glaubenserfahrungen immer deutlicher wurde, für sich selbst und im gesellschaftlich-politischen Bereich umzusetzen. Ab 1953 arbeitete sie daher als „Reisesekretärin“ für den Internationalen Versöhnungsbund, zu Beginn v.a. in der Ost-West-Arbeit, auf der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Gewalt und Passivität, zwischen den dominanten Systemen des Kapitalismus im Westen und des Kommunismus im Osten im sog. „Kalten Krieg“. In ihrem Buch „Wie Feinde Freunde werden“ (1. Auflage 1996; 3., erweiterte Auflage 2008) beschreibt sie, bzw. „gibt sie Zeugnis“ (wie sie sagt), von weiteren wichtigen Stationen ihres Engagements: die Aufnahme des Friedensthemas und der Gewaltfreiheit im II. Vatikanischen Konzil, das Engagement für den Aufbau gewaltfreier Bewegungen in Lateinamerika in den 1960er und 70er Jahren, die Unterstützung – letztlich erfolgreicher – gewaltfreier Widerstandsbewegungen gegen die Diktaturen auf den Philippinen (1984-86) und in Madagaskar (1990-91). Gut 35 Jahre lang (schon vor ihrer Hochzeit 1958) lebte sie dieses Engagement Seite an Seite mit ihrem Ehemann Jean Goss, der 1991 gestorben ist, und heute, bald neunzigjährig, führt sie es noch immer gemäß ihren Kräften weiter.

2. Warum Lateinamerika?

Wie und warum kam es dazu, dass sich die gewaltfreie Arbeit von Hildegard und Jean Goss gut 15 Jahre lang auf Lateinamerika (LA) konzentrierte? Die Situation dort war gekennzeichnet von Hunger, Armut, Unterdrückung und unermesslichem Leid eines Großteils der Bevölkerung, sowie vom Kalten Krieg, in dem die beiden Blöcke unter Führung der USA und der Sowjetunion ihre jeweiligen Ideologien und Machtsysteme überall durchzusetzen versuchten. 1959 war in Kuba die Revolution unter Fidel Castro erfolgreich und wurde so zu einem möglichen Modell des Kampfes gegen Armut und Unterdrückung, das für viele in LA und darüber hinaus große Anziehungskraft ausübte. Andererseits galt LA – aufgrund seiner Kolonialgeschichte – als der christliche/katholische Kontinent schlechthin, in dem sich neben der Hierarchie und teilweise gegen ihren Widerstand Volksbewegungen bildeten, die den Beitrag der Kirche(n) zur Befreiung der Armen und die Überwindung des Unrechts einforderten und umzusetzen begannen. In dieser Situation beschloss der Internationale Versöhnungsbund seinen gewaltfreien Beitrag verstärkt in LA anzubieten und einzubringen. Hildegard und Jean übernahmen diese Aufgabe und begaben sich 1962 auf eine viermonatige Erkundungsreise durch den Kontinent, an deren Ende sie in Bogotá den jungen Priester Camilo Torres trafen, in dem sich das Ringen der Kirche um Gerechtigkeit und Solidarität mit den Ärmsten einerseits und der Frage nach den christlichen Mitteln dafür andererseits verkörperte.

Welche Punkte aus der Entstehungszeit des Engagements in LA können wir für gegenwärtige „gewaltfreie Intervention in Konflikten“ festhalten?

  • Ausgangspunkt des Engagements ist die Betroffenheit durch Unrecht und Gewalt – direkt auf Seite der Armen, durch „Mit-Leiden mit dem Volk (Gottes)“ durch Sympathisant*innen.
  • Aktive Gewaltfreiheit ist eine tief verankerte Grundhaltung, eine Lebenseinstellung (in diesem Fall grundgelegt in der biblischen Botschaft), nicht nur eine Taktik oder Methode.
  • Am Beginn des Einsatzes steht ein gründliches Kennenlernen der Situation, eine Analyse „aus der Kraft der Wahrheit“ (Gandhi), die selbst schon Bestandteil gewaltfreier Aktion ist.
  • Die primäre „Zielgruppe“, die bei der Arbeit im Mittelpunkt stand, waren Mitglieder der Kirchen, von den christlichen Basisgemeinden bis hin zu Laienbewegungen, Bischöfen und Kardinälen [Vatikanum II, CELAM/LA-Bischofskonferenzen in Medellin 1968 und Puebla 1979].

3. Meilensteine, Entwicklungsphasen und Kontexte

3.1.  Consulta 1966 in Montevideo: Nach einer oft mühevollen Phase des Aufbaus kleiner gewaltfreier Gruppen in konkreten lokalen Konflikten wurde 1966 eine erste kontinentale „Beratung“ in Uruguay mit Teilnehmer*innen aus 19 Ländern organisiert, bei der auch gewaltfreie Aktivist*innen aus anderen Kontexten (US-Bürgerrechtsbewegung, Danilo Dolci aus Sizilien, Arche-Gemeinschaft von Lanza del Vasto in Frankreich) ihre Erfahrungen einbrachten. Das Ergebnis war der Wunsch der lateinamerikanischen Gruppen nach mehr Schulungskursen in Gewaltfreiheit mit Hildegard und Jean, dem sie in den folgenden Jahren immer wieder nachkamen. Im Lauf dieser Kurse entwickelten sie ein Basismodell für Gewaltfreiheitsseminare, das sie später auch in anderen Kontexten (Philippinen, Afrika) zur Anwendung brachten. Aus diesen Seminaren entstanden durch die teilnehmenden Gruppen dann oft konkrete Aktionen gegen spezifische Ungerechtigkeiten, wie etwa das Beispiel der „Frauen von Medellin“ zeigt.

Punkte der ersten Phase, „Schulungen in Gewaltfreiheit“, für heutiges Engagement:

  • Die von Unrecht Betroffenen selbst und ihre Führungspersönlichkeiten sind die Akteur*innen gewaltfreien Handelns. Sie können von außen in ihrer Fähigkeit zur Selbstverantwortung durch verschiedene Unterstützungsmaßnahmen (Trainings, Begleitarbeit, finanzielle und spirituelle Unterstützung etc.) bestärkt werden.
  • Organisiertes gewaltfreies Handeln steht von seinen Anfängen her etwa bei Gandhi in einem „großen Strom der Liebe“. Erfahrungen und Methoden werden geteilt, in neuen Zusammenhängen weiter entwickelt und angepasst und nicht als Besitz Einzelner oder bestimmter Organisationen gehütet.

3.2 Kontinentaltreffen 1971 in Costa Rica und 1974 in Kolumbien: In den Jahren ab 1964 (Brasilien) verschärfte sich die politische Lage in LA zusehends, immer mehr Länder wandelten sich unter der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ zu Diktaturen, die nicht nur linke Guerillabewegungen, sondern zunehmend auch Mitglieder gewaltloser Gruppen und Initiativen verfolgten, einsperrten oder umbrachten. Während es 1971 in Alajuela noch möglich war, das 1. kontinentale Treffen der gewaltfreien Bewegungen zu organisieren, stand das 2. Treffen in Medellin 1974 im Schatten des Militärputsches in Chile, der zunehmenden Errichtung von Diktaturen u.a. in Uruguay, Paraguay, Bolivien, Peru und Argentinien und der blutigen Kämpfe zwischen Guerillas und Diktaturen in Mittelamerika. Dennoch gelang es 65 Personen aus 22 Staaten Lateinamerikas, aus Europa und den USA zusammen zu bringen, die dort das Netzwerk Servicio Paz y Justicia (SERPAJ) gründeten und Adolfo Pérez Esquivel zum Koordinator wählten.

3.3 Seminar mit Bischöfen 1977, Höhepunkt der Repression: Inzwischen hatten Verfolgung und Gewalt stufenweise solche Ausmaße angenommen, dass oft nur noch hohe kirchliche Würdenträger, v.a. Bischöfe, die auf der Seite des Volkes standen, öffentlich ihre Stimme dagegen erheben konnten. Zur Stärkung und Vertiefung der Gewaltfreiheit fanden mehrere nationale und 1977 ein internationales Treffen speziell für diese Bischöfe statt, darunter z.B. Kard. Arns, Dom Helder Camara und Dom Aloisio Lorscheider aus Brasilien, Mons. Romero aus El Salvador oder Bischof Proaño aus Ecuador. Besonders die Folter und das „Verschwinden-lassen“ standen im Zentrum der Kritik und des Engagements derjenigen Teile der Kirche, die sich nicht den Herrschenden anschlossen, sondern Unrecht und Gewalt aus der Kraft der Gewaltfreiheit überwinden wollten. So führte beispielsweise die Kirche in Brasilien 1975/76 eine Kampagne gegen Folter durch und schuf Zentren zur Verteidigung der Menschenrechte.

Nicht immer, und schon gar nicht kurzfristig, war der gewaltfreie Einsatz „erfolgreich“. Viele gewaltfreie Aktivist*innen, prominente und v.a. unbekannt (gebliebene), bezahlten den Preis für ihre Arbeit: Adolfo P. Esquivel wurde 1977 verhaftet, im Gefängnis gefoltert und beinahe ermordet – er verdankt sein Leben u.a. der weltweit organisierten Solidarität und wurde schließlich 1980 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet; Erzbischof Romero von San Salvador wurde 1980 auf höchsten Auftrag hin während der Messe ermordet, und unzähligen anderen erging es ähnlich. Aber die Kraft der Gewaltfreiheit, die über viele Jahre geweckt und praktiziert worden war, begann auch Wirkung zu zeigen – im Laufe der 1980er Jahre wurde eine Militärdiktatur nach der anderen in (meist) gewaltfreien, demokratischen Prozessen, begleitet von teils massenhaften gewaltfreien Aktionen (Referendum in Chile 1988), beendet.

Weitere Punkte zur Arbeit in LA für heutiges Engagement:

  • Auf organisierte Gewalt gewaltfreie Antworten zu finden, bedarf neben dem konkreten Einsatz vor Ort auch der (inter)nationalen Vernetzung, damit der Kreis der Unterstützer*innen gewaltfreien Widerstandes schrittweise erweitert werden kann.
  • Ein wichtiger Ansatzpunkt ist das Ansprechen des Gewissens von Menschen und Gruppen, die zum Unrecht schweigen und sich passiv verhalten, aber aufgrund einer besonderen Stellung in der Gesellschaft Einfluss ausüben können.

Das Schlusswort zur Frage, was zum „Erfolg“ gewaltfreien Handelns in konkreten historischen Kontexten führt bzw. was überhaupt als „Erfolg“ zu bezeichnen ist, wollen wir Hildegard Goss-Mayr selbst überlassen:

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