Solidaritätsreise nach Kolumbien
von Valentina Duelli, Teilnehmerin der Solidaritätsreise des Versöhnungsbundes
im Februar 2013
Mit geschlossenen Augen sitze ich im Flugzeug auf dem Weg zurück nach Österreich. Auf dem Rückweg von einer Reise durch ein Land, das ich vor Jahren kennen und lieben gelernt habe. Kolumbien. Ganz bin ich noch nicht weg. Auf meiner Zunge liegt noch immer der Geschmack von Koriander, Bestandteil nahezu jeder kolumbianischen Speise. In meiner Nase sitzt nach wie vor der undefinierbare Geruch kolumbianischer Großstädte. In meinen Gedanken klingen die allgegenwärtigen Salsarhythmen noch leise nach. Und vor meinem inneren Auge ziehen die optischen Eindrücke der letzten Wochen vorbei.
Meine Reise startet in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, in der ich vor drei Jahren gelebt und als Freiwillige gearbeitet habe. Es ist verrückt nach so langer Zeit wieder hier zu sein, vieles hat sich verändert. Nach drei Tagen voller emotionaler Wiedersehen und einem schmerzhaften Abschied führt mich mein Weg nach Bogotá, wo die eigentliche Solidaritätsreise beginnt. Ich bin aufgeregt, kann mir schwer vorstellen, was mich in den nächsten zwei Wochen erwartet.
Ich habe mich im Dezember sehr spontan für die Teilnahme an der Solidaritätsreise entschieden, die von FOR USA (Fellowship of Reconciliation USA) und deren Zweigstelle in Österreich (Internationaler Versöhnungsbund) organisiert wird. Ziel der Reise ist es, die Friedensgemeinde San José de Apartadó zu besuchen und sich mit den Menschen dort solidarisch zu zeigen, in Kolumbien wie in Österreich. Die Gemeinde liegt in der kolumbianischen Region Urabá, nahe der Grenze zu Panama. In diesem Gebiet tobt der Konflikt zwischen Guerillagruppen, Paramilitärs und dem kolumbianischen Militär nach wie vor.
Neben dem Aufenthalt in der Friedensgemeinde stehen auch Besuche bei verschiedenen NGOs, Botschaften und der 17. kolumbianischen Militärbrigade auf unserem Programm. Geleitet wird die Reise von Elisabeth Rohrmoser und Isaac Beachy. Beide haben im Rahmen des Begleitprogramms von FOR als Freiwillige für ein Jahr in der Friedensgemeinde gelebt. Die Präsenz von FriedensaktivistInnen hilft, die Existenz der oft bedrohten Friedensgemeinde zu sichern.
In Bogotá treffe ich auf die Gruppe, die für die nächsten Wochen mein soziales Umfeld darstellen wird. Einige kenne ich schon von den Vorbereitungstreffen, andere sehe ich zum ersten Mal. Von Studierenden in meinem Alter bis hin zu PensionistInnen im Alter meiner Großeltern ist in unserer Gruppe alles vertreten. Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass gerade diese Unterschiede das Reisen in der Gruppe zu einer so besonderen Erfahrung gemacht haben. Wie oft wandert man schon ins tiefste kolumbianische Hinterland, zwischen einer 21-jährigen Fotografie-Studentin und einer 76 jährigen Menschenrechtsaktivistin?
Den ersten Tag in Bogotá verbringen wir mit Vorbereitungen für die kommenden Tage und gegenseitigem Kennenlernen. Auch wenn ich müde bin und mir die Höhenluft zu schaffen macht (immerhin liegt Bogotá auf 2640m!) gestaltet sich der Tag abwechslungsreich und harmonisch, was zu einem großen Teil der besonderen Art der Organisation unserer ReiseleiterInnen zu verdanken ist. Die kommenden Tage in Bogotá sind anstrengend und ich stoße oft an die Grenzen meiner Aufnahmefähigkeit. Ein Termin jagt den nächsten und jede Organisation möchte uns so viel mit auf den Weg geben wie möglich. Die Menschen, die wir bei diesen Terminen kennenlernen, hinterlassen tiefen Eindruck bei mir. Sich in einem Land wie Kolumbien sozial zu engagieren, bedeutet oft ein hohes persönliches Risiko.
Wirklich bewusst wird mir das beim Besuch der Organisation ‘TierraDigna‘. Diese Arbeitsgruppe setzt sich für Gemeinschaften ein, deren Rechte durch Großprojekte wie Kohle- und Goldabbau, Industriefischerei, Wasserprivatisierung oder Waldrodung verletzt werden. Es sind bis zu drei Jahre Recherche nötig, um überhaupt herauszufinden, wer bzw. welcher Konzern hinter diesen Großprojekten steckt. Beim Verlassen des Büros weiß ich nicht, welches Gefühl überwiegt – Bewunderung für die Arbeit, die hier geleistet wird, oder Resignation vor einem derart korrupten System.
Unser Meeting-Marathon geht weiter. Auf das Treffen mit einem Menschen bin ich besonders gespannt. Wir treffen den Abgeordneten des Polo Democrático Alternativo und Vorsitzenden der Organisation MOVICE (Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen) Iván Cepeda Castro im kolumbianischen Kongress in Bogotá. Die Geschichte dieses Mannes gibt einen grausamen Einblick in die korrupte Vergangenheit und Gegenwart der ko-lumbianischen Regierung. Sein Vater, Manuel Cepeda Vargas, wurde im August 1994 als Gründer der Oppositionspartei Unión Patriótica ermordet. Die Unión Patriótica war 1984 als Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der damaligen kolumbianischen Regierung entstanden und erfuhr starken Zuspruch in der Bevölkerung. Ab den späten 80er Jahren begann die systematische Ermordung von Parteimitgliedern, insgesamt handelt es sich um cirka 5.000 Menschen. Dieser Massenmord wurde mit Hilfe der Polizei und des Militärs durchgeführt, die Befehle dazu kamen wohl aus den obersten Reihen der damaligen Regierung. Iván Cepeda kämpfte jahrelang darum, eine offizielle Entschuldigung für den Tod seines Vaters zu erhalten. Im Dezember vergangenen Jahres erkannte der oberste Gerichtshof das furchtbare Verbrechen als Genozid an. Cepeda hat ‘gewonnen‘. Ohne Personenschutz kann er das Haus nur noch selten verlassen. Eine knappe Stunde widmet Ivan Cepeda unserer Delegation, bevor ihn seine Begleiter zum nächsten Termin drängen. Er spricht unter anderem über die derzeit in Havanna stattfindenden Friedensverhandlungen zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung. Die Verhandlungen seien aus seiner Perspektive relativ aussichtsreich, da der Wille zum Frieden auf beiden Seiten präsent sei. Problematisch sei allerdings der Plan, die Verhandlungen bis November dieses Jahres zu einem Ende bringen zu wollen. „Wie einen 50 Jahre währenden Konflikt in einigen Monaten lösen?“ Außerdem seien die FARC nur bereit ihre Waffen niederzulegen, wenn sie politisches Mitspracherecht bekämen. Mit der nach wie vor herrschenden ‘Parapolitik‘ sei dies jedoch nicht zu vereinbaren; demnach gelten Guerillas weder als vertrauenswürdig noch als verhandlungsfähig. Ob die Friedensverhandlungen ihr Ziel bis November nächsten Jahres erreichen, wird sich weisen.
Vollgepackt mit unzähligen neuen Eindrücken und Informationen führt uns unsere Reise nach drei Tagen im (für meine Verhältnisse) viel zu kühlen Bogotá in eine angenehmere Klimazone, nach Medellín. Die Heimatstadt von Pablo Escobar empfängt uns mit einer kurvenreichen Taxifahrt vom Flughafen, der praktischerweise durch eine Hügelkette von der Stadt getrennt ist, zu unserem Hostel. Die folgenden zwei Tage verbringen wir mit der Bauernorganisation von Antioquia (ACA). Wir fahren in die kleine Stadt San Francisco, die etwa drei Stunden von Medellín entfernt liegt. Dort besuchen wir El Pajuil, weniger ein Dorf als vielmehr eine Ansammlung von Häusern, und lernen die dort lebenden Frauen, Kinder und Jugendlichen kennen. Die Männer arbeiten noch auf den Feldern. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde sprechen die Frauen über ihre Arbeit mit der ACA und über die Probleme, mit denen sie als Kleinbäuerinnen konfrontiert sind. Es fallen bekannte Begriffe – Ressourcenraub, keine vorhandenen Eigentumstitel auf das bewirtschaftete Land, schlechte Gesundheitsversorgung, ausbaufähiges Bildungssystem. Eine Theatergruppe, bestehend aus Kindern und Jugendlichen aus El Pajuil und Umgebung, zeigt uns eines ihrer selbst erarbeiteten Stücke. Das Stück dreht sich um eine Problematik, mit der sich viele Kleinbauern in der Region konfrontiert sehen. Investoren großer Konzerne wollen Land zu einem lächerlichen Preis erwerben, um dann mit den daraus gewonnenen Rohstoffen Unmengen an Geld zu verdienen, wovon die Region selbst selten auch nur einen Peso sieht. Mit Witz und Ernsthaftigkeit zugleich schaffen es die Jugendlichen, ein komplexes Problemfeld einfach und verständlich darzustellen – wir sind begeistert.
Nach zwei Tagen in San Francisco geht es für uns wieder zurück nach Medellín. Von dort aus fliegen wir schließlich nach Apartadó und kommen somit der Friedensgemeinde immer näher.
In Apartadó angekommen, spüre ich eine Veränderung der allgemeinen Stimmung. Alle sind darauf bedacht nicht aufzufallen, was in Anbetracht der Größe unserer Gruppe nahezu unmöglich ist. Statt von ‚Guerilla‘ und ‚Paramilitärs‘ sprechen wir hier von den ‚G’s‘, und den ‚P’s‘. Über Menschenrechte oder die Friedensgemeinde reden wir, wenn überhaupt, auf Deutsch. In der Region, in der wir uns nun bewegen, sind viele Menschen InformantInnen für die Guerilla oder die Paramilitärs, daher ist Vorsicht geboten.
Nach einer abenteuerlichen Jeep-Fahrt kommen wir in einem Teil der Friedensgemeinde, San Josesito (auch La Holandita) an und verbringen dort unsere erste Nacht. Diese erste Nacht bringt nicht für alle den friedlich erholsamen Schlaf, den wir uns erwartet haben. Ein Reiseteilnehmer wird gegen zwei Uhr nachts von Schüssen aus der Umgebung geweckt, andere hören Ratten unter ihren Hängematten über den Boden krabbeln. Um vier Uhr morgens wecken uns die gemeindeeigenen Hähne. Nach einem Treffen mit den Gemeinderäten und der Künstlerin der Friedensgemeinde, Brigida, wandern wir im strömenden Regen zu unserem eigentlichen Ziel – La Unión. Das ist der Teil der Friedensgemeinde, in dem Elisabeth und Isaac nahezu ein Jahr verbracht haben. Wir werden herzlich em-pfangen und ich fühle mich nach nur wenigen Augenblicken gut aufgehoben. Die folgenden Tage, die wir mit den Menschen in La Unión verbringen, sind für uns alle eine besondere Erfahrung. Die Stimmung ist schwer zu beschreiben, sie schwankt zwischen vollkommener Zufriedenheit und tiefer Bestürzung. Zufriedenheit, weil hier alles noch ‚in Ordnung‘ zu sein scheint, und wir weit weg und vollkommen abgeschnitten von unserem eigentlichen Leben zu Hause sind. Bestürzung, weil wir grauenvolle Geschichten hören, über Massaker, Drohungen, Menschen, die gegangen sind. Und gegangen sind schon viele, denn das Risiko, als Mitglied der Friedensgemeinde zu leben, ist vielen zu hoch. Am meisten aber empfinde ich Bewunderung für die Menschen, die nach wie vor hier leben und ihre Grundsätze und ihr Land ohne Anwendung von Gewalt verteidigen. Nach drei Tagen friedlichen Zusammenlebens mit Erwachsenen, Kindern und Tieren verlassen wir die Gemeinde. Ich gehe mit gemischten Gefühlen und einem grummelnden Magen.
Das Magengrummeln packt in der kommenden Nacht auch einige meiner Begleiterinnen. Am Treffen mit der 17. Militärbrigade in Apartadó können aus magen-darm-technischen Gründen nicht alle teilnehmen. Die Stimmung zwischen Gruppe und Militär ist wie erwartet frostig, nicht nur wegen der unbarmherzig kalt eingestellten Klimaanlage im Sitzungsraum.
Im Anschluss an dieses mehr oder weniger frustrierende Treffen geht es per Flugzeug nach Medellín und von dort zurück nach Bogotá. Ich verbringe 90 Prozent dieses Reisetages über diversen Kloschüsseln. Vielen anderen aus der Gruppe geht es ähnlich, die Gesprächsthemen kreisen um die Konsistenz unseres Stuhlgangs und die Frage nach der Ursache unseres Übels. Diese Frage bleibt bis heute ungeklärt.
Die letzten Tage in Bogotá verbringe ich im Bett, allzu viele Treffen verpasse ich zum Glück nicht mehr. Je näher der Abschied von der Gruppe und Kolumbien rückt, desto sentimentaler werde ich. Ich denke viel darüber nach, was wir von Österreich aus tun können, um das Fortbestehen der Friedensgemeinde zu sichern. Auch in der Gruppe sprechen wir darüber. Wir sammeln konkrete Vorschläge, wie wir uns von zu Hause aus weiter engagieren können. Das Wissen, dass uns dort bald wieder der Alltag einholen wird, ob wir wollen oder nicht, trübt den anfänglichen Enthusiasmus. Trotzdem wird jeder von uns zumindest einen kleinen Teil der Erfahrungen, die wir auf dieser Reise gesammelt haben, an Freunde und Bekannte weitergeben können.
Ich für meinen Teil hoffe, dass ich mit diesen Zeilen viele Menschen erreiche und das Interesse an zukünftigen Solidaritätsreisen geweckt habe.
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