Die Besorgnis um Menschenrechtsverteidiger*innen in Kolumbien steigt und steigt. Während von den Straßen Kolumbiens täglich von unverhältnismäßiger Staatsgewalt berichtet wird, bestätigt der Verfassungsgerichtshof mit einer knappen Mehrheit, dass die Friedensgemeinde von San José de Apartadó Menschenrechtsverletzungen des Militärs nur dann öffentlich anklagen kann, wenn bereits ein Gerichtsurteil vorliegt. „Wenn wir nicht mehr öffentlich anklagen können beziehungsweise keine Redefreiheit mehr haben, ist das für uns wie ein Todesurteil. Wir haben uns genau dadurch geschützt, dass wir die Stimme erhoben haben, durch das Wort.“ meint German Graciano von der Friedensgemeinde von San José de Apartadó.
Das Urteil könnte nicht nur für die Friedensgemeinde gravierende Folgen haben, sondern auch als Präzedenzfall dienen. „Damit hat der Gerichtshof Opfern, die Vergehen von öffentlichen Streitkräften anklagen möchten, einen Maulkorb angelegt.“, meint Jorge Molano, Menschenrechtsanwalt. Fernanda Doz Costa von Amnesty International Lateinamerika ist alarmiert: „Wie können Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt werden, wenn man sie nicht öffentlich anklagen kann? In der aktuellen Situation des Generalstreiks haben Organisationen der Zivilgesellschaft fast 40 Morde durch Staatsgewalt und unzählige weitere Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Man stelle sich vor, was passiert, wenn wir das nicht mehr machen können!“
Die Regierung verstärkt die Polizeigewalt gegen die Streikenden
Und die Zahl der Toten steigt. Seit dem 28. April 2021, dem Beginn des Nationalen Streiks, wurden 49 Ermordete gezählt, 39 werden auf Polizeigewalt zurückgeführt. Über 150 Menschen werden vermisst, dazu kommen fast 2000 Fälle von Gewaltanwendung durch öffentliche Sicherheitskräfte.
Am Montag, 17. Mai, lehnte Präsident Duque ein Dokument mit 19 Forderungen des Nationalen Streikkomitees, in dem unter anderem den Rückzug der polizeilichen Sondereinheit zur Aufstandsbekämpfung Esmad und des Militärs bei den Protesten gefordert wurde, ab. Stattdessen kündigte er einen „maximalen Einsatz“ der Staatsgewalt an.
Eine geplante Steuerreform, die vor allem die Armen getroffen hätte, war der Auslöser für die massiven Proteste. Die Steuerreform musste zurückgenommen werden, die Proteste gingen. Denn die Kolumbianer*innen haben viele Gründe, auf die Straße zu gehen: Im letzten Jahr hat sich der nationale Armutsindex um 6,8% auf 42,5% erhöht, 21,2 Millionen Menschen sind von Armut betroffen. Die Arbeitslosenrate nimmt rasant zu. Dazu kommt eine chronische Korruption, die während der Pandemie noch zunahm.
„Wenn die aktuelle Regierung und die Mächtigen des Establishments nicht mit einem politischen Willen und sofortigen Garantien auf die historischen sozialen Versäumnisse und auf alle Vereinbarungen, inklusive den Friedensverträgen, antworten, sollte der Generalstreik weitergehen und er sollte sich mit dem internationalen Widerstand und dem Kampf für alternative Modelle, für die Überwindung des wirtschaftlichen Modells der Entwicklung, das uns als Planet und als Familie Menschheit an den Rande des Zusammenbruchs gebracht hat, zusammenschließen“, meinen die Menschenrechtsverteidiger*innen Maria Riascos Mosquera und Enrique Chimonja Coy.